Copiright: RAY BRADBURY (May 6, 1950)
"Im Wohnzimmer sang die Stimm-Uhr: Ticktack,
sieben Uhr, zackzack,
aufstehn nur, aufstehn nur,
aufstehn nur, sieben Uhr!, als
ob sie Angst
hätte, daß ihr niemand gehorchen würde. Das
morgendliche Haus war
leer. Die Uhr tickte weiter und wiederholte ihre
Ansagen viele Male in
die Leere. Sieben Uhr neun, zum Frühstück hinein,
sieben Uhr neun!
In der Küche stieß der Frühstücksherd einen
zischenden Seufzer aus
und entließ aus einem warmen Innern acht herrlich gebräunte
Scheiben
Toast, acht Spiegeleier mit dem Eidotter nach oben,
sechzehn Scheiben
Speck, zwei Tassen Kaffee und zwei Gläser kühle
Milch.
»Heute ist der 4. August 2026«, sagte eine zweite
Stimme von der
Küchendecke, »in der Stadt Allendale, Kalifornien.«
Sie wiederholte
das Datum dreimal, damit es sich auch richtig
einprägte. »Heute hat Mr.
Featherstone Geburtstag. Heute hat Tilitia
Hochzeitstag. Die
Versicherungsbeiträge sind fällig, außerdem das
Wassergeld, die Gasund
Stromrechnung.«
Irgendwo in den Wänden klickten Relais, und
Informationsbänder
glitten unter elektrischen Augen dahin.
»Acht Uhr eins, ticktack, acht
Uhr eins, zur Schule, zur Arbeit, lauft,
lauft, acht Uhr eins!« Aber keine Türen wurden
zugeschlagen, keine
Gummiabsätze polterten dumpf auf den Teppichboden.
Es regnete
draußen. Der Wetterkasten neben der Haustür sang
leise: »Regen,
Regen, geh vorbei, Stiefel,
Mäntel holt herbei…« Und
der Regen klopfte
mit hohlem Geräusch auf das leere Haus.
Draußen läutete die Garage, hob ihre Tür hoch und
gab den Blick frei
auf den wartenden Wagen. Nach langem Warten schwang
die Tür
wieder herab.
Um halb neun waren die Eier unansehnlich und die
Toastscheiben
steinhart geworden. Ein Aluminiumschaber kratzte
alles in den
Abwasch, wo die Reste von heißem Wasser erfaßt und
durch einen
metallenen Schlund hinabgesogen wurden, der sie ins
ferne Meer spülte.
Das schmutzige Geschirr wurde in einen Heißwascher
getaucht und kam
schimmernd und trocken wieder zum Vorschein.
Neun Uhr fünfzig, sang die Uhr, saubermachen.
Winzige Robotmäuse kamen aus ihren Wandhöhlen
gehuscht. Überall
in den Räumen wimmelte es von kleinen
Reinigungstieren aus Gummi
und Metall. Sie prallten dumpf gegen Stuhlbeine,
schwenkten ihre
haarigen Läuferchen, klopften den Teppich ab,
saugten den verborgenen
Staub heraus. Wie geheimnisvolle Eindringlinge
verschwanden sie
wieder in ihren Nestern. Ihre elektrischen Augen
erloschen. Das Haus
war sauber.
Zehn Uhr. Die Sonne kam hinter den
Regenwolken hervor. Das Haus
stand verlassen inmitten einer Trümmerwüste; das
einzige Haus, das
noch intakt war. In der Nacht lag über der Stadt ein
radioaktiver
Schimmer, der meilenweit zu sehen war.
Zehn Uhr fünfzehn. Die Rasensprenger ließen ihre
goldenen Strahlen
hoch aufwirbeln und erfüllten die laue Morgenluft
mit schimmernden
Fontänen. Das Wasser benetzte die Fensterscheiben
und lief an der
Westfront herab, deren weißer Anstrich versengt war.
Die gesamte
Westwand des Hauses war schwarz verbrannt – bis auf
fünf Stellen.
Hier war die Silhouette eines Mannes zu sehen, der
einen Rasenmäher
schob. Dort, wie auf einer Fotografie, eine Frau,
die gerade eine Blume
pflückte. Links davon, in einem titanischen Moment
ins Holz gebrannt,
ein kleiner Junge, die Hände erhoben, darüber die
Umrisse eines
hochgeworfenen Balls. Ihm gegenüber die Silhouette
eines Mädchens,
die Hände erhoben, um den Ball zu fangen, der nie
ankommen würde.
Diese fünf hellen Flecke der ursprünglichen
Farbschicht – der Mann,
die Frau, die Kinder, der Ball – waren geblieben.
Der Rest war eine
dünne geschwärzte Schicht.
Der sanfte Regen des Sprengers füllte den Garten mit
herabfallendem
Licht.
Wie vorzüglich hatte das Haus bis heute
durchgehalten! Wie sorgsam
hatte es immer wieder gefragt: »Wer ist da? Wie
lautet das Kennwort?«
Und wenn die herumstreunenden Füchse und jaulenden
Katzen keine
Antwort gaben, hatte es Fensterläden und Vorhänge in
altjüngferlichem
Schutzbedürfnis geschlossen, das fast einer
mechanischen Paranoia
gleichkam.
Das Haus erzitterte bei jedem Geräusch. Wenn ein
Spatz ein Fenster
berührte, schnappte sofort der Laden zu. Der
erschreckte Vogel flog
davon. Nein, kein Spatz durfte das Haus berühren.
Das Haus war ein Heiligtum mit zehntausend
Tempeldienern – mit
Scharen von Bediensteten aller Größen und Arten.
Aber die Götter
waren verschwunden, und das religiöse Ritual setzte
sich fort, sinnlos,
nutzlos.
Zwölf Uhr. Mittagszeit
Ein Hund jaulte und wartete zitternd auf der
vorderen Veranda.
Die Haustür erkannte die Stimme des Hundes und
öffnete sich. Der
Hund, einst groß und massig, doch jetzt zum Skelett
abgemagert und
mit zahlreichen Wunden bedeckt, trottete durchs Haus
und hinterließ in
allen Räumen eine breite Schmutzspur. Hinter ihm
wurde das ärgerliche
Surren der Mäuse laut – ärgerlich über den Schmutz,
den sie
wegzuschaffen hatten, ärgerlich über die Störung.
Kein Blattfetzen wehte unter der Tür hindurch, ohne
daß sich
Wandklappen öffneten und die metallenen Ratten
blitzschnell
herausfuhren. Das beleidigende Stück – ein
Staubkorn, ein Haar oder
ein Stück Papier – wurde von den winzigen stählernen
Kiefern ergriffen
und in Windeseile in die Höhlen geschafft. Dort
wurde es in ein
Röhrensystem gestopft, das in den Keller und dort zu
einem Verbrenner
führte, der wie der böse Baal persönlich in einer
dunklen Ecke hockte.
Der Hund rannte nach oben, bellte hysterisch vor
jeder Tür und
erkannte schließlich, was auch das Haus schon
erkannt hatte – daß
niemand anwesend war außer der Stille.
Das Tier schnüffelte herum und kratzte an der
Küchentür. Hinter der
Tür machte der Herd gerade Eierkuchen, die das Haus
mit herrlichem
Duft erfüllten, einem Duft nach Gebackenem und nach
Ahornsirup.
Speichel rann aus dem Maul des Hundes, und mit
glühenden Augen
lag er vor der Tür und schnüffelte. Dann rannte er
wie wild im Kreis
und versuchte, sich in den Schwanz zu beißen, jagte
immer schneller
herum, Schaum stand ihm vor dem Maul, er winselte –
und starb. Eine
Stunde lang blieb er im Flur liegen.
Zwei Uhr, sang eine Stimme.
Die empfindlichen Geruchsorgane der Mäuseregimenter
registrierten
endlich die einsetzende Verwesung und summten leise
wie graue Blätter
in einem elektrischen Wind.
Zwei Uhr fünfzehn.
Der Hund war verschwunden.
Im Keller glühte der Verbrenner plötzlich auf, und
der Schornstein
sprühte Funken.
Zwei Uhr fünfunddreißig.
Bridge-Tische sprossen aus den Wänden zum Hof,
Spielkarten
flatterten herab. Martinis erschienen auf einer
Eichenbank, Sandwiches
mit Eiersalat. Musik ertönte.
Doch an den Tischen blieb es still, und niemand
bewegte die Karten.
Um vier Uhr falteten sich die Tische wie riesige
Schmetterlinge
wieder in die Wände.
Vier Uhr dreißig.
Die Wände des Kinderzimmers glühten auf.
Tiere nahmen Gestalt an: Gelbe Giraffen, blaue
Löwen, rosafarbene
Antilopen, lila Panther, die in der kristallenen
Substanz herumtobten.
Die Wände wurden zu Glas. Sie gaben den Blick frei
auf Landschaften
aus Farbe und Fantasie. Versteckte Filme rasteten in
Zahnräder, und die
Wände gerieten in Bewegung. Der Boden des
Kinderzimmers war so
gestaltet, daß er einer frischen Wiese glich.
Aluminium-Käfer und
eiserne Grillen rannten darüber hin, und in der
ruhigen, heißen Luft
flatterten zarte rote Schmetterlinge im scharfen
Geruch tierischer
Fährten. Geräusche klangen auf, die an das Summen
eines großen
gelben Bienenstocks in einer dunklen Höhle erinnerten,
das Grollen
eines Löwen. Und der Tritt von Okapihufen und das
Murmeln des
tropischen Regens, der wie Hufgetrappel auf das
ausgedörrte Gras
niederging. Jetzt lösten sich die Wände zu
gewaltigen Grassteppen auf,
meilenweit, und endloser warmer Himmel war zu sehen.
Die Tiere
zogen sich in Dornendickichte und Wasserlöcher
zurück. Kinderstunde.
Fünf Uhr. Die Wanne füllte sich mit klarem
heißem Wasser.
Sechs, sieben, acht Uhr. Das Geschirr des Abendessens kam
und ging
wie von Zauberhänden bewegt, und in der Bibliothek
ertönte ein
Klicken. Aus einem Metallständer am Kamin, in dem
jetzt ein warmes
Feuer loderte, kam eine Zigarre hervor, an einem
Ende weiche, graue
Asche, qualmend, wartend.
Neun Uhr. Durch versteckte Stromkreise
wurden die Betten
angewärmt, denn die Nächte waren kalt.
Neun Uhr fünf. Eine Stimme tönte von der Decke
der Bibliothek:
»Mrs. McClellan, welches Gedicht möchten Sie heute
abend gern
hören?«
Keine Antwort.
Dann sagte die Stimme: »Da Sie keinen Wunsch äußern,
werde ich
einfach ein Gedicht aussuchen.« Leise Musik
untermalte die Stimme.
»Sara Teasdale. Ihre Lieblingsdichterin, ich
erinnere mich…«
Leise Regen werden kommen und
frischer Duft,
und Schwalben werden jagen hoch
in der schimmernden Luft,
Und Froschkonzerte wird’s geben
am Wasser in der Nacht,
Und Bäume werden blühen in ihrer
kalten Pracht,
Und Rotkehlchen werden sitzen in
feurigem Federkleid
auf niedrigen Zäunen und
zwitschern, als gäbe es kein Leid.
Denn sie alle wissen, sei es Tier
oder Baum
nichts vom Krieg, sie bemerken
ihn kaum.
Und wäre auch nicht ein Mensch
mehr auf Erden,
Was sollte für sie wohl anders
werden?
Ja ahnt der Frühling, der
erwacht,
daß wir verschwanden über Nacht?
Das Feuer flackerte im steinernen Kamin, und die
Zigarre verbrannte in
der Schale zu einem Aschehaufen. Die leeren Stühle
standen zwischen
den stummen Wänden und sahen sich an, und es spielte
Musik.
Um zehn Uhr schlug die Todesstunde des Hauses.
Der Wind draußen war zum Sturm geworden. Ein
fallender Baum
krachte durch das Küchenfenster und ließ einige
Flaschen
Reinigungslösung auf dem Herd zerschellen.
Augenblicklich stand der
Raum in Flammen.
»Feuer!« kreischte eine Stimme. Im Haus blitzten
Lichter, Pumpen
ließen Wasser von der Decke rieseln. Doch die Lösung
floß über das
Linoleum und fraß und leckte sich unter der
Küchentür hindurch,
während die Stimmen zum Chor wurden: »Feuer, Feuer,
Feuer!«
Das Haus versuchte sich zu retten. Türen schlossen
sich, doch die
Fenster zersprangen unter dem Ansturm der Hitze, und
der Wind fachte
das Feuer an, trieb es weiter.
Das Haus verlor an Boden gegenüber der Feuersbrunst,
die in zehn
Milliarden wütenden Funken mit tänzerischer
Leichtigkeit von Zimmer
zu Zimmer vordrang und schließlich auch die Treppe
erfaßte.
Unterdessen huschten Löschratten aus den Wänden,
verspritzten ihr
Wasser und rannten davon, um Nachschub zu holen, und
die
Wandsprenger erzeugten künstliche Regenschauer.
Aber es war zu spät. Irgendwo blieb seufzend eine
Pumpe stehen. Der
kühlende Regen hörte auf. Das Wasserreservoir, das
an zahlreichen
ruhigen Tagen die Badewannen und den Geschirrspüler
gespeist hatte,
war erschöpft.
Das Feuer knisterte die Treppe hinauf. Im oberen
Flur fraß es Gemälde
von Picasso und Matisse, verzehrte sie wie
Delikatessen, schälte das
ölige Fleisch ab und zerröstete die Leinwände
zärtlich zu schwarzen
Spänen.
Dann lag das Feuer in den Betten, stand an den
Fenstern, veränderte
die Farben der Vorhänge.
Dann kam Verstärkung.
Durch Bodenluken starrten blinde Robotergesichter
herab, und aus
ihren gähnenden Mäulern spritzte eine grüne
Flüssigkeit.
Das Feuer wich zurück wie ein Elefant, dem die
giftige Schlange trotz
seiner Größe gefährlich werden kann. Gleich darauf
waren es schon
zwanzig Schlangen, die sich am Boden ringelten und
das Feuer in einem
kühlen klaren giftigen Schaumbad erstickten.
Aber das Feuer war schlau. Es hatte seine Flammen
auch vor das Haus
geschickt, zum Dachboden hinauf, zu den Pumpen. Das
Gehirn unter
dem Dach, das die Pumpen steuerte, explodierte;
Metallsplitter
zersiebten die Dachbalken.
Das Feuer drang sofort wieder vor, huschte in jeden
Schrank und
befühlte die Kleider, die dort hingen.
Das Haus erzitterte, seine Eichenknochen knirschten,
sein freigelegtes
Skelett wand sich in der Hitze, seine Leitungen, die
Nerven, waren
entblößt, als hätte ein Chirurg die Haut abgerissen,
damit die roten
Venen und Blutgefäße in der brennend heißen Luft
erbeben konnten.
Hilfe, Hilfe, Feuer! Lauft, lauft! Hitze ließ die
Spiegel zerspringen wie
dünnes Wintereis. Und die Stimmen wimmerten ihr Feuer,
Feuer, lauft,
lauft, wie einen tragischen Kinderreim;
ein Dutzend Stimmen, laut und
leise, wie Kinder, die im Walde sterben müssen,
allein, allein. Und die
Stimmen erstarben, als die Drähte wie heiße
Kastanien aus ihren
Umhüllungen sprangen. Eine, zwei, drei, vier, fünf
Stimmen erstarben.
Im Kinderzimmer brannte der Dschungel. Blaue Löwen
brüllten,
purpurne Giraffen galoppierten davon. Die Panther
liefen im Kreis und
veränderten ihre Farbe, und zehn Millionen Tiere
flohen vor dem Feuer
auf einen fernen dampfenden Fluß zu…
Und wieder erstarben zehn Stimmen. In den letzten
Momenten des
gewaltigen Feuersturms waren auch andere Chöre zu
hören,
Vorrichtungen, die die Zeit ansagten, Musik
spielten, die ferngesteuert
den Rasen mähten oder in wilder Hast einen
Regenschirm durch die sich
heftig öffnende und schließende Haustür
hinausschafften und gleich
wieder hereinholten. Tausend Dinge geschahen, wie in
einem
Uhrenladen, in dem alle Uhren in verrückter Folge
nacheinander die
volle Stunde schlagen, eine Szene wahnsinnigen
Durcheinanders, doch
zugleich eine Szene der Einheit; Singen, Kreischen,
übriggebliebene
Reinigungsmäuse, die mutig durch das Chaos huschten
und die
entsetzliche Asche fortzuräumen versuchten. Und eine
Stimme, die in
majestätischer Mißachtung der Situation in der
lodernden Bibliothek
Gedichte aufsagte, bis dann doch alle Filmspulen
verbrannt, bis alle
Bänder zerschmolzen und die Stromkreise
kurzgeschlossen waren.
Das Feuer ließ das Haus in sich zusammenfallen und
schickte einen
hellen Funkenregen und gewaltige Rauchwolken gen
Himmel.
In der Küche, noch Sekunden vor dem großen
Zusammenbruch, war
der Herd damit beschäftigt, in wahnsinnigem Tempo
Frühstück zu
bereiten – zehn Dutzend Eier, sechs Toastbrote,
zwanzig Dutzend
Scheiben Speck –, und alles wurde sofort vom Feuer
verzehrt, was den
Herd veranlaßte, hysterisch zischend sofort ein
neues Frühstück
zuzubereiten.
Der Krach! Der Dachboden brach in die Küche und den
Flur ein. Der
Flur in den Keller und den Unterkeller. Tiefkühltruhe,
Lehnstuhl,
Filmbänder, Schaltungen, Betten – alles wurde tief
unten zu einem
wirren Haufen zusammengeballt – verkohlt und
angesengt.
Rauch und Schweigen. Viel Rauch.
Im Osten zeigte sich die erste Morgendämmerung. Aus
den Trümmern
ragte noch eine Seitenwand des Hauses. Und in der
Wand war eine
letzte Stimme zu hören, die immer wieder und wieder
die gleichen
Worte sagte, während die Sonne aufging und auf die
rauchgeschwärzte,
schwelende Ruine herabschien: »Heute ist der 5.
August 2026, heute ist
der 5. August
2026, heute ist…« "
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