Dienstag, 27. Mai 2014

Es werden leise kommen Regen



Copiright: RAY BRADBURY  (May 6, 1950)

"Im Wohnzimmer sang die Stimm-Uhr: Ticktack, sieben Uhr, zackzack,
aufstehn nur, aufstehn nur, aufstehn nur, sieben Uhr!, als ob sie Angst
hätte, daß ihr niemand gehorchen würde. Das morgendliche Haus war
leer. Die Uhr tickte weiter und wiederholte ihre Ansagen viele Male in
die Leere. Sieben Uhr neun, zum Frühstück hinein, sieben Uhr neun!
In der Küche stieß der Frühstücksherd einen zischenden Seufzer aus
und entließ aus einem warmen Innern acht herrlich gebräunte Scheiben
Toast, acht Spiegeleier mit dem Eidotter nach oben, sechzehn Scheiben
Speck, zwei Tassen Kaffee und zwei Gläser kühle Milch.
»Heute ist der 4. August 2026«, sagte eine zweite Stimme von der
Küchendecke, »in der Stadt Allendale, Kalifornien.« Sie wiederholte
das Datum dreimal, damit es sich auch richtig einprägte. »Heute hat Mr.
Featherstone Geburtstag. Heute hat Tilitia Hochzeitstag. Die
Versicherungsbeiträge sind fällig, außerdem das Wassergeld, die Gasund
Stromrechnung.«
Irgendwo in den Wänden klickten Relais, und Informationsbänder
glitten unter elektrischen Augen dahin.


»Acht Uhr eins, ticktack, acht Uhr eins, zur Schule, zur Arbeit, lauft,
lauft, acht Uhr eins!« Aber keine Türen wurden zugeschlagen, keine
Gummiabsätze polterten dumpf auf den Teppichboden. Es regnete
draußen. Der Wetterkasten neben der Haustür sang leise: »Regen,
Regen, geh vorbei, Stiefel, Mäntel holt herbei…« Und der Regen klopfte
mit hohlem Geräusch auf das leere Haus.
Draußen läutete die Garage, hob ihre Tür hoch und gab den Blick frei
auf den wartenden Wagen. Nach langem Warten schwang die Tür
wieder herab.
Um halb neun waren die Eier unansehnlich und die Toastscheiben
steinhart geworden. Ein Aluminiumschaber kratzte alles in den
Abwasch, wo die Reste von heißem Wasser erfaßt und durch einen
metallenen Schlund hinabgesogen wurden, der sie ins ferne Meer spülte.
Das schmutzige Geschirr wurde in einen Heißwascher getaucht und kam
schimmernd und trocken wieder zum Vorschein.
Neun Uhr fünfzig, sang die Uhr, saubermachen.
Winzige Robotmäuse kamen aus ihren Wandhöhlen gehuscht. Überall
in den Räumen wimmelte es von kleinen Reinigungstieren aus Gummi
und Metall. Sie prallten dumpf gegen Stuhlbeine, schwenkten ihre
haarigen Läuferchen, klopften den Teppich ab, saugten den verborgenen
Staub heraus. Wie geheimnisvolle Eindringlinge verschwanden sie
wieder in ihren Nestern. Ihre elektrischen Augen erloschen. Das Haus
war sauber.
Zehn Uhr. Die Sonne kam hinter den Regenwolken hervor. Das Haus
stand verlassen inmitten einer Trümmerwüste; das einzige Haus, das
noch intakt war. In der Nacht lag über der Stadt ein radioaktiver
Schimmer, der meilenweit zu sehen war.
Zehn Uhr fünfzehn. Die Rasensprenger ließen ihre goldenen Strahlen
hoch aufwirbeln und erfüllten die laue Morgenluft mit schimmernden
Fontänen. Das Wasser benetzte die Fensterscheiben und lief an der
Westfront herab, deren weißer Anstrich versengt war. Die gesamte
Westwand des Hauses war schwarz verbrannt – bis auf fünf Stellen.
Hier war die Silhouette eines Mannes zu sehen, der einen Rasenmäher
schob. Dort, wie auf einer Fotografie, eine Frau, die gerade eine Blume
pflückte. Links davon, in einem titanischen Moment ins Holz gebrannt,
ein kleiner Junge, die Hände erhoben, darüber die Umrisse eines
hochgeworfenen Balls. Ihm gegenüber die Silhouette eines Mädchens,
die Hände erhoben, um den Ball zu fangen, der nie ankommen würde.
Diese fünf hellen Flecke der ursprünglichen Farbschicht – der Mann,
die Frau, die Kinder, der Ball – waren geblieben. Der Rest war eine
dünne geschwärzte Schicht.
Der sanfte Regen des Sprengers füllte den Garten mit herabfallendem
Licht.
Wie vorzüglich hatte das Haus bis heute durchgehalten! Wie sorgsam
hatte es immer wieder gefragt: »Wer ist da? Wie lautet das Kennwort?«
Und wenn die herumstreunenden Füchse und jaulenden Katzen keine
Antwort gaben, hatte es Fensterläden und Vorhänge in altjüngferlichem
Schutzbedürfnis geschlossen, das fast einer mechanischen Paranoia
gleichkam.
Das Haus erzitterte bei jedem Geräusch. Wenn ein Spatz ein Fenster
berührte, schnappte sofort der Laden zu. Der erschreckte Vogel flog
davon. Nein, kein Spatz durfte das Haus berühren.
Das Haus war ein Heiligtum mit zehntausend Tempeldienern – mit
Scharen von Bediensteten aller Größen und Arten. Aber die Götter
waren verschwunden, und das religiöse Ritual setzte sich fort, sinnlos,
nutzlos.
Zwölf Uhr. Mittagszeit
Ein Hund jaulte und wartete zitternd auf der vorderen Veranda.
Die Haustür erkannte die Stimme des Hundes und öffnete sich. Der
Hund, einst groß und massig, doch jetzt zum Skelett abgemagert und
mit zahlreichen Wunden bedeckt, trottete durchs Haus und hinterließ in
allen Räumen eine breite Schmutzspur. Hinter ihm wurde das ärgerliche
Surren der Mäuse laut – ärgerlich über den Schmutz, den sie
wegzuschaffen hatten, ärgerlich über die Störung.
Kein Blattfetzen wehte unter der Tür hindurch, ohne daß sich
Wandklappen öffneten und die metallenen Ratten blitzschnell
herausfuhren. Das beleidigende Stück – ein Staubkorn, ein Haar oder
ein Stück Papier – wurde von den winzigen stählernen Kiefern ergriffen
und in Windeseile in die Höhlen geschafft. Dort wurde es in ein
Röhrensystem gestopft, das in den Keller und dort zu einem Verbrenner
führte, der wie der böse Baal persönlich in einer dunklen Ecke hockte.
Der Hund rannte nach oben, bellte hysterisch vor jeder Tür und
erkannte schließlich, was auch das Haus schon erkannt hatte – daß
niemand anwesend war außer der Stille.
Das Tier schnüffelte herum und kratzte an der Küchentür. Hinter der
Tür machte der Herd gerade Eierkuchen, die das Haus mit herrlichem
Duft erfüllten, einem Duft nach Gebackenem und nach Ahornsirup.
Speichel rann aus dem Maul des Hundes, und mit glühenden Augen
lag er vor der Tür und schnüffelte. Dann rannte er wie wild im Kreis
und versuchte, sich in den Schwanz zu beißen, jagte immer schneller
herum, Schaum stand ihm vor dem Maul, er winselte – und starb. Eine
Stunde lang blieb er im Flur liegen.
Zwei Uhr, sang eine Stimme.
Die empfindlichen Geruchsorgane der Mäuseregimenter registrierten
endlich die einsetzende Verwesung und summten leise wie graue Blätter
in einem elektrischen Wind.
Zwei Uhr fünfzehn.
Der Hund war verschwunden.
Im Keller glühte der Verbrenner plötzlich auf, und der Schornstein
sprühte Funken.
Zwei Uhr fünfunddreißig.
Bridge-Tische sprossen aus den Wänden zum Hof, Spielkarten
flatterten herab. Martinis erschienen auf einer Eichenbank, Sandwiches
mit Eiersalat. Musik ertönte.
Doch an den Tischen blieb es still, und niemand bewegte die Karten.
Um vier Uhr falteten sich die Tische wie riesige Schmetterlinge
wieder in die Wände.
Vier Uhr dreißig.
Die Wände des Kinderzimmers glühten auf.
Tiere nahmen Gestalt an: Gelbe Giraffen, blaue Löwen, rosafarbene
Antilopen, lila Panther, die in der kristallenen Substanz herumtobten.
Die Wände wurden zu Glas. Sie gaben den Blick frei auf Landschaften
aus Farbe und Fantasie. Versteckte Filme rasteten in Zahnräder, und die
Wände gerieten in Bewegung. Der Boden des Kinderzimmers war so
gestaltet, daß er einer frischen Wiese glich. Aluminium-Käfer und
eiserne Grillen rannten darüber hin, und in der ruhigen, heißen Luft
flatterten zarte rote Schmetterlinge im scharfen Geruch tierischer
Fährten. Geräusche klangen auf, die an das Summen eines großen
gelben Bienenstocks in einer dunklen Höhle erinnerten, das Grollen
eines Löwen. Und der Tritt von Okapihufen und das Murmeln des
tropischen Regens, der wie Hufgetrappel auf das ausgedörrte Gras
niederging. Jetzt lösten sich die Wände zu gewaltigen Grassteppen auf,
meilenweit, und endloser warmer Himmel war zu sehen. Die Tiere
zogen sich in Dornendickichte und Wasserlöcher zurück. Kinderstunde.
Fünf Uhr. Die Wanne füllte sich mit klarem heißem Wasser.
Sechs, sieben, acht Uhr. Das Geschirr des Abendessens kam und ging
wie von Zauberhänden bewegt, und in der Bibliothek ertönte ein
Klicken. Aus einem Metallständer am Kamin, in dem jetzt ein warmes
Feuer loderte, kam eine Zigarre hervor, an einem Ende weiche, graue
Asche, qualmend, wartend.
Neun Uhr. Durch versteckte Stromkreise wurden die Betten
angewärmt, denn die Nächte waren kalt.
Neun Uhr fünf. Eine Stimme tönte von der Decke der Bibliothek:
»Mrs. McClellan, welches Gedicht möchten Sie heute abend gern
hören?«
Keine Antwort.
Dann sagte die Stimme: »Da Sie keinen Wunsch äußern, werde ich
einfach ein Gedicht aussuchen.« Leise Musik untermalte die Stimme.
»Sara Teasdale. Ihre Lieblingsdichterin, ich erinnere mich…«
Leise Regen werden kommen und frischer Duft,
und Schwalben werden jagen hoch in der schimmernden Luft,
Und Froschkonzerte wird’s geben am Wasser in der Nacht,
Und Bäume werden blühen in ihrer kalten Pracht,
Und Rotkehlchen werden sitzen in feurigem Federkleid
auf niedrigen Zäunen und zwitschern, als gäbe es kein Leid.
Denn sie alle wissen, sei es Tier oder Baum
nichts vom Krieg, sie bemerken ihn kaum.
Und wäre auch nicht ein Mensch mehr auf Erden,
Was sollte für sie wohl anders werden?
Ja ahnt der Frühling, der erwacht,
daß wir verschwanden über Nacht?
Das Feuer flackerte im steinernen Kamin, und die Zigarre verbrannte in
der Schale zu einem Aschehaufen. Die leeren Stühle standen zwischen
den stummen Wänden und sahen sich an, und es spielte Musik.
Um zehn Uhr schlug die Todesstunde des Hauses.
Der Wind draußen war zum Sturm geworden. Ein fallender Baum
krachte durch das Küchenfenster und ließ einige Flaschen
Reinigungslösung auf dem Herd zerschellen. Augenblicklich stand der
Raum in Flammen.
»Feuer!« kreischte eine Stimme. Im Haus blitzten Lichter, Pumpen
ließen Wasser von der Decke rieseln. Doch die Lösung floß über das
Linoleum und fraß und leckte sich unter der Küchentür hindurch,
während die Stimmen zum Chor wurden: »Feuer, Feuer, Feuer!«
Das Haus versuchte sich zu retten. Türen schlossen sich, doch die
Fenster zersprangen unter dem Ansturm der Hitze, und der Wind fachte
das Feuer an, trieb es weiter.
Das Haus verlor an Boden gegenüber der Feuersbrunst, die in zehn
Milliarden wütenden Funken mit tänzerischer Leichtigkeit von Zimmer
zu Zimmer vordrang und schließlich auch die Treppe erfaßte.
Unterdessen huschten Löschratten aus den Wänden, verspritzten ihr
Wasser und rannten davon, um Nachschub zu holen, und die
Wandsprenger erzeugten künstliche Regenschauer.
Aber es war zu spät. Irgendwo blieb seufzend eine Pumpe stehen. Der
kühlende Regen hörte auf. Das Wasserreservoir, das an zahlreichen
ruhigen Tagen die Badewannen und den Geschirrspüler gespeist hatte,
war erschöpft.
Das Feuer knisterte die Treppe hinauf. Im oberen Flur fraß es Gemälde
von Picasso und Matisse, verzehrte sie wie Delikatessen, schälte das
ölige Fleisch ab und zerröstete die Leinwände zärtlich zu schwarzen
Spänen.
Dann lag das Feuer in den Betten, stand an den Fenstern, veränderte
die Farben der Vorhänge.
Dann kam Verstärkung.
Durch Bodenluken starrten blinde Robotergesichter herab, und aus
ihren gähnenden Mäulern spritzte eine grüne Flüssigkeit.
Das Feuer wich zurück wie ein Elefant, dem die giftige Schlange trotz
seiner Größe gefährlich werden kann. Gleich darauf waren es schon
zwanzig Schlangen, die sich am Boden ringelten und das Feuer in einem
kühlen klaren giftigen Schaumbad erstickten.
Aber das Feuer war schlau. Es hatte seine Flammen auch vor das Haus
geschickt, zum Dachboden hinauf, zu den Pumpen. Das Gehirn unter
dem Dach, das die Pumpen steuerte, explodierte; Metallsplitter
zersiebten die Dachbalken.
Das Feuer drang sofort wieder vor, huschte in jeden Schrank und
befühlte die Kleider, die dort hingen.
Das Haus erzitterte, seine Eichenknochen knirschten, sein freigelegtes
Skelett wand sich in der Hitze, seine Leitungen, die Nerven, waren
entblößt, als hätte ein Chirurg die Haut abgerissen, damit die roten
Venen und Blutgefäße in der brennend heißen Luft erbeben konnten.
Hilfe, Hilfe, Feuer! Lauft, lauft! Hitze ließ die Spiegel zerspringen wie
dünnes Wintereis. Und die Stimmen wimmerten ihr Feuer, Feuer, lauft,
lauft, wie einen tragischen Kinderreim; ein Dutzend Stimmen, laut und
leise, wie Kinder, die im Walde sterben müssen, allein, allein. Und die
Stimmen erstarben, als die Drähte wie heiße Kastanien aus ihren
Umhüllungen sprangen. Eine, zwei, drei, vier, fünf Stimmen erstarben.
Im Kinderzimmer brannte der Dschungel. Blaue Löwen brüllten,
purpurne Giraffen galoppierten davon. Die Panther liefen im Kreis und
veränderten ihre Farbe, und zehn Millionen Tiere flohen vor dem Feuer
auf einen fernen dampfenden Fluß zu…
Und wieder erstarben zehn Stimmen. In den letzten Momenten des
gewaltigen Feuersturms waren auch andere Chöre zu hören,
Vorrichtungen, die die Zeit ansagten, Musik spielten, die ferngesteuert
den Rasen mähten oder in wilder Hast einen Regenschirm durch die sich
heftig öffnende und schließende Haustür hinausschafften und gleich
wieder hereinholten. Tausend Dinge geschahen, wie in einem
Uhrenladen, in dem alle Uhren in verrückter Folge nacheinander die
volle Stunde schlagen, eine Szene wahnsinnigen Durcheinanders, doch
zugleich eine Szene der Einheit; Singen, Kreischen, übriggebliebene
Reinigungsmäuse, die mutig durch das Chaos huschten und die
entsetzliche Asche fortzuräumen versuchten. Und eine Stimme, die in
majestätischer Mißachtung der Situation in der lodernden Bibliothek
Gedichte aufsagte, bis dann doch alle Filmspulen verbrannt, bis alle
Bänder zerschmolzen und die Stromkreise kurzgeschlossen waren.
Das Feuer ließ das Haus in sich zusammenfallen und schickte einen
hellen Funkenregen und gewaltige Rauchwolken gen Himmel.
In der Küche, noch Sekunden vor dem großen Zusammenbruch, war
der Herd damit beschäftigt, in wahnsinnigem Tempo Frühstück zu
bereiten – zehn Dutzend Eier, sechs Toastbrote, zwanzig Dutzend
Scheiben Speck –, und alles wurde sofort vom Feuer verzehrt, was den
Herd veranlaßte, hysterisch zischend sofort ein neues Frühstück
zuzubereiten.
Der Krach! Der Dachboden brach in die Küche und den Flur ein. Der
Flur in den Keller und den Unterkeller. Tiefkühltruhe, Lehnstuhl,
Filmbänder, Schaltungen, Betten – alles wurde tief unten zu einem
wirren Haufen zusammengeballt – verkohlt und angesengt.
Rauch und Schweigen. Viel Rauch.
Im Osten zeigte sich die erste Morgendämmerung. Aus den Trümmern
ragte noch eine Seitenwand des Hauses. Und in der Wand war eine
letzte Stimme zu hören, die immer wieder und wieder die gleichen
Worte sagte, während die Sonne aufging und auf die rauchgeschwärzte,
schwelende Ruine herabschien: »Heute ist der 5. August 2026, heute ist
der 5. August 2026, heute ist…« "

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